Für Träume ist es niemals zu spät

Manuel widmet sich ganz und gar seiner Arbeit, ohne sich je zu fragen, ob das, was er tut, sinnvoll ist.

Er glaubt, umso geachteter zu sein, je mehr er zu tun hat.
Seine Frau ist verstorben, die Kinder wachsen heran und gehen aus dem Haus.

Manuel wird befördert. Und arbeitet fleißig weiter.
Eines Tages jedoch ist es so weit: Manuel geht in Rente.

Seine Kollegen vergießen ein paar Tränen, und er bekommt eine Uhr geschenkt.
Manuel kann nun endlich tun, wozu er Lust hat.

In den ersten Monaten als Rentner schaut Manuel häufiger in der Firma vorbei, hält mit den Ex-Kollegen ein Schwätzchen.
Ansonsten genießt er es, das zu tun, wovon er immer geträumt hat: Er schläft lange, geht am Strand spazieren, richtet sich in seinem mühsam abbezahlten Landhaus ein, entdeckt das Gärtnern für sich.

Endlich hat Manuel alle Zeit der Welt.

Mit seinem Ersparten unternimmt er weite Reisen – und schickt seinen Ex-Kollegen Postkarten.

Weitere Monate gehen ins Land. Manuel lernt, dass das, was gepflanzt wurde, Zeit zum Wachsen braucht.
Dass es nichts bringt, immer wieder nachzuschauen, ob der Rosenstrauch schon Knospen hat.

Auch wird ihm eines Tages bewusst, dass alles, was er auf seinen Reisen gesehen hat, nur Landschaften aus dem Touristenbus gewesen sind, die er auf Fotos festgehalten hat.
Mehr hat er von den fernen Ländern nicht in Erinnerung behalten – er war viel zu sehr damit beschäftigt, seinen Kollegen vom Zauber der Länder zu berichten, anstatt diesen selber zu erleben. Zu fühlen.

Manuel schaut sich die Nachrichten im Fernsehen an, liest noch mehr Zeitungen (er hat ja jetzt mehr Zeit), hält sich für äußerst gut informiert.
Er kann nun bei Dingen mitreden, von denen er zuvor keine Ahnung hatte.
Er sucht jemanden, mit dem er sich austauschen kann, doch alle, die für ihn in Frage kämen, stehen mitten im Berufsleben und haben keine Zeit.

Manuel sucht bei seinen Kindern Trost. Sie gehen stets sehr liebevoll mit ihm um – schließlich war er ihnen ein guter Vater, ein Vorbild an Ehrlichkeit und Fleiß. Aber auch sie haben anderes zu tun, wenngleich sie es als ihre Pflicht ansehen, sonntags zu ihm zum Essen zu kommen.

Manuel ist ein freier Mensch. Nur:

Was tun mit dieser so mühevoll errungenen Freiheit?

Alle grüßen ihn, loben ihn, doch niemand hat Zeit für ihn.
Ganz allmählich beginnt Manuel, sich nutzlos zu fühlen – trotz der vielen Jahre, die er gearbeitet hat und auch trotz seiner Familie.

Eines Nachts erscheint ihm im Traum ein Engel:
„Was hast du aus deinem Leben gemacht? Hast du es deinen Träumen entsprechend gelebt?“


Manuel wacht schweißgebadet auf. Was für Träume? Sein Traum war: ein Diplom bekommen, heiraten, Kinder haben, in Rente gehen, reisen. Wieso fragt der Engel so sinnlose Dinge?

Ein neuer Tag beginnt. Die Zeitungen. Der Garten. Ein wenig schlafen.
Tun, wozu er gerade Lust hat – in diesem Augenblick merkt Manuel, dass er zu überhaupt nichts Lust hat.

Manuel ist ein freier, aber unglücklicher Mensch. Er war stets zu beschäftigt gewesen, um über den Sinn des Lebens nachzudenken, während die Jahre vorbeiflossen.

Er erinnert sich an den Ausspruch: „Er hat nicht gelebt.“ Ist es das, was ihm widerfahren ist?

Und doch, tief in seinem Inneren kommt er zu der Erkenntnis, dass es für Träume niemals zu spät ist…“

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